Was ist das Heilende am Jakobsweg?
- Natalie Helene v. Stülpnagel
- 9. Nov. 2023
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Juli 2024
Kaptitel 5 aus dem BSP Forschungsbericht 02 zum Thema "Auf den Spuren des Jakobsweges – Das Geschäftsmodell Jakobsweg zwischen Kommerz und Spiritualität"
Autoren: Prof. Dr. Herbert Fitzek, Magdalena Wottke und Natalie Helene v. Stülpnagel
Ausgehend von der Überforderung der Menschen in der Gegenwartskultur wurden mithilfe morphologischer Methoden grundlegende Motive zum Aufbruch als Pilger auf dem Jakobsweg untersucht. Als Team mit kulturpsychologischem Verständnis befragten wir erstmalig Pilger auf dem Jakobsweg mit einem ganzheitlichen Konzept. Daraus ergab sich als das Heilende am Jakobsweg die Selbstbehandlung des Alltags.
1. Einteilung:
In einer Welt voller Möglichkeiten, wo dem Einzelnen keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen, wird der Alltag zur Herausforderung. In der Lebenswelt von heute verlieren wir uns leicht in einer Vielzahl von Angeboten und geraten gleichzeitig unter den Druck einer alles umfassenden Forderung nach Effizienz und kontinuierlicher Verbesserung. Wie kommt es dazu, dass immer mehr Menschen aussteigen und den Jakobsweg wandern? Zwischen der Fülle der Möglichkeiten und dem Hamsterrad des Alltags kommt das Essentielle des Menschen zu kurz – auf dem Jakobsweg gerät es hingegen in Bewegung: Wer bin ich? Wo gehe ich hin? Mit wem gehe ich durch den Alltag? Als Navigationshilfe ermöglicht der Jakobsweg den Menschen, sich entschiedener auszurichten und die aus dem Takt gebrachten Bestandteile des Alltäglichen wieder in einen Rhythmus zu bringen. Die Forschungsreise mit der Fragestellung »Was ist das Heilende am Jakobsweg?« untersucht somit ein aktuelles Thema der heutigen Gesellschaft und gibt Aufschluss darüber, wie zentral das Thema derzeit ist, wie wichtig die Aufgabe erscheint, uns wieder mit uns selbst in Kontakt zu bringen. Zu Recht lässt sich von einer Selbsthandlung sprechen, die von den Menschen meist unbewusst vollzogen wird, um für sich eine klare Ausrichtung zu finden. Durch zweistündige Tiefeninterviews, die in den Herbergen auf dem Jakobsweg geführt wurden, fanden sich zahlreiche Ergebnisse, die sich am besten mit dem morphologischen Hexagramm verorten lassen.
2. Konzeptionelle Verortung
Aus kulturpsychologischer Sicht ist die heutige Zeit durch ein breites Angebot von Ausrichtungen, Ansprüchen und Entwürfen für ein gutes, eigenes Leben gekennzeichnet. Es ist unbehaglich, dass jederzeit alles aus uns werden kann oder sollte. In psychologischen Darstellungen der Gegenwartskultur zeigt sich, dass die Bildangebote »inflationär« geworden sind (Salber/Salber, 1997). Es ist, als sei nun alles gleichzeitig und nebeneinander erlaubt und verfügbar. Auf der einen Seite werden Festlegungen im Leben vermieden: Was bin ich? Und was bin ich nicht? Was ist mein Standpunkt? Wo will ich hin? Was schließe ich aus? Auf der anderen Seite befinden wir uns auf der Jagd nach lohnenden (Vor-) Bildern, Stars und Autoritäten. Die morphologische Kulturpsychologie hat in empirischen Analysen an der Gegenwartskultur aufgewiesen, wie das Nebeneinander von Bilderangeboten geradezu virtuos dafür eingesetzt wird, um entschiedene Formen und konturierte Bilder zu vermeiden, wie (andererseits) geradezu verzweifelt nach Bildern gesucht wird, die es festzuhalten und zu durchleiden lohnt. Als charakteristisches Problem hebt sie das »Ein- und Auskuppeln« in unterschiedliche Identitäten und Lebenswelten heraus, das den Lebensalltag heute charakterisiert (Fitzek, 1998).
Um dem entgegen zu wirken, ergreift die Menschen der Gegenwartskultur eine Gegenbewegung, die der Vielfältigkeit und dem bunten Durcheinander etwas Einheitliches entgegenzusetzen sucht. Mit unserer Fragestellung machten wir uns auf die Suche nach den Erwartungen der Menschen an das »Ganzheitliche« auf dem Jakobsweg (das Englische bindet im Begriff »Whole«, »Ganzheit“« und »Heil/Heilung« unmittelbar aneinander). Ihre Erwartungen und Erfahrungen untersuchten wir mit Hilfe von Aktionsforschung, indem wir uns sprichwörtlich mit den Pilgern auf den Weg machten und auf und zwischen den Stationen des Jakobsweges Feldbeobachtungen und Tiefeninterviews durchführten.
3. Methodisches Vorgehen:
Für unsere Studie wählten wir den kulturpsychologischen Forschungsansatz, der die Menschen in ihrer Lebenswelt abholt, ihnen Gelegenheit gibt, sich das eigenen Erleben erzählend und reflektierend zu erschließen und Erwartungen an bzw. Erfahrungen mit dem Wandern auf dem Jakobsweg im Dialog zu vergegenwärtigen. Uns war wichtig, den seelischen und spirituellen Zusammenhang des Laufens und Sinnens in seinen verschiedenen Facetten kennen zu lernen und mit einem möglichst sensiblen und anpassungsfähigen Forschungsinstrument zu erfassen. Unser Zugang zum Feld sollte den Intentionen und Erfahrungen der Wandernden gerecht werden. Das ging nur, indem wir uns selbst ins Feld der Reise wagten und uns mit den Teilnehmern an unserer Untersuchungen auf dem Jakobsweg bewegten. Deshalb ist unser Material unterwegs entstanden, auf den Stationen des Jakobsweges, in einem oft mehrfachen Kontakt zu den Wandernden, denen wir an verschiedenen Stellen der Strecke und in unterschiedlichen Stimmungen ihres persönlichen Weges begegnet sind. Beim kulturpsychologischen Forschen liegt der Fokus nicht in der Erfassung möglichst vieler objektivierbarer Daten zum Zweck quantifizierbarer Aussagen, sondern in einer möglichst sensiblen Erfassung der psychologisch relevanten Sinnzusammenhänge. Wir gehen davon aus, dass Handlungsmotive oftmals nicht offen erkennbar sind, sondern aus Ansichten, Erzählversionen und Stimmungsverhältnissen der Betroffenen herausgeschält werden müssen. Die psychologische Feldanalyse gleicht einer gemeinsamen Forschungsreise, die Muster und Strukturen Stück um Stück modelliert.
Vom Standpunkt einer Kulturpsychologie her resultieren die Zusammenhänge des Erlebens und Verhaltens nicht aus dem psychologischen Profil von Einzelpersonen (Individuum, Charakter), vielmehr aus der Beschaffenheit von personenübergreifenden Wirkungseinheiten. »Subjekt« des Geschehens ist nicht der Einzelne, sondern der Rahmen, der das Erleben und Handeln der Menschen von Fall zu Fall – hier auf dem Jakobsweg – bestimmt. Die Erwartungen an und die Erfahrungen mit dem Jakobsweg sind die »Wirkungseinheit«, die das Ziel der kulturpsychologischen Analyse bildet. Die morphologische Psychologie versteht »Wirkungseinheiten« als gestalthafte Sinngebilde, die über einen beschreibenden Zugang zugänglich gemacht werden können. Als »Gestalt- und Verwandlungslehre« orientiert sich die Morphologie – statt an der Sammlung und Zusammenfügung von persönlichen Erfahrungen – an der schrittweisen Herausarbeitung einer möglichst »dichten«, das Individuum übergreifenden Sinngestalt des Erlebens durch die verschiedenen (Einzel-)Perspektiven hindurch im Hinblick auf Analogien, Überschneidungen, Abweichungen und Drehgrenzen. Die Angemessenheit der Methode wird, weil sie den Gegenstand nicht als objektives Gebilde auffasst, auch nicht nach objektivierbaren Gütekriterien sichergestellt (Reliabilität und Validität), sondern durch die Sachgerechtigkeit des Vorgehens im Hinblick auf die untersuchte Wirkungseinheit (Wurden die psychologisch bedeutsamen Aspekte erfasst?) und die Vollständigkeit der Beschreibung hinsichtlich der rekonstruierten Sinngestalt (Wird ein strukturelles Ganzes mit verschiedenen aufeinander verweisenden Aspekten deutlich?). Die morphologische Datenerhebung geht immer vom Erleben aus und mustert die durchgeführten Einzelinterviews im Hinblick auf gemeinsame Sinngestalten. Die Interviews folgen nicht etwa einem festgelegten Fragenkatalog, sondern lassen Raum für die Entdeckungsreise von Interviewern und Befragten. Dazu dienen narrative und intensivierende Fragetechniken, die unbemerkte Aspekte des Untersuchungsgegenstandes mithilfe dehnender, variierender und gegensteuernder Fragetechniken über die Grenzen der Konvention ausdehnen. Für eine ganzheitlichpsychologische Darstellung des Gegenstands reicht eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Tiefeninterviews aus (wir führten auf zwei Erkundungen insgesamt 8 Interviews mit Wandernden durch). Bei der Datenauswertung werden die in den Tiefeninterviews aus dem konventionellen Selbstverständnis herausgebrochenen Sinnmomente nach ihrer psychologischen Ordnung zusammengestellt. Die Beschreibung erfolgt zunächst für jedes Einzelinterview getrennt, indem die gegenstandsspezifischen Aussagen und Tendenzen im Interview nebeneinander gestellt und in Beziehung gebracht werden. Im Anschluss werden die Einzelbeschreibungen im Hinblick auf eine gemeinsame Struktur der thematisierten Wirkungseinheit zusammengeführt. Die psychologische Beschreibung ist insofern von Anfang an mehr als nur eine kondensierte Bestandsaufnahme von Daten. Sie löst sich von den intendierten Meinungen und ordnet die Aussagen nach gestaltanalogen Verhältnissen – nach dem, was jeweils zusammenpasst, was sich fortsetzt, wo sich Gegenläufe ankündigen und wo Widerspruch deutlich wird. Die Präsentation der Untersuchungsergebnisse in der alle Einzelbefunde vereinheitlichenden strukturierten Beschreibung geschieht vorzugsweise in der Form eines »Zitatenteppichs«, in dem Aussagen aus verschiedenen Tiefeninterviews ihrem Stellenwert im Gefüge des Ganzen entsprechend zusammengestellt sind. Morphologische Untersuchungen arbeiten ihre Daten in mehreren »Versionen« von Beschreibung heraus. Dabei werden die übereinstimmenden Grundzüge der befragten Wirkungseinheit zunächst in einer gemeinsamen Grundqualität verdichtet. Im Anschluss wird ein Wirkungsraum aufgespannt, in dem in dem sich verschiedene Sinndimensionen gegenseitig abstützen, ergänzen oder auch herausfordern. Das morphologische Hexagramm hat sich als nützliches Suchraster bewährt, nach dem der Wirkungsraum spezifischer Wirkungseinheiten kategorisiert werden kann. Es sortiert die Befunde im Hinblick auf wie- derkehrende Tendenzen: des Habens und Haltens (»Aneignung«) und des Anders-Werdens (»Umbildung«), des Tuns und Machens (»Einwirkung«) und des Eingliederns (»Anordnung«), des Wünschens und Wollens (»Ausbreitung«) wie des Könnens und Sicherns (»Ausrüstung«). Sie werden im Hinblick auf konkrete Wirkungseinheiten jeweils spezifisch benannt (s.u.).

Abbildung 1: Allgemeine Tendenzen im Wirkungsraum (nach Salber, 2006)
4. Empirische Auswertung
4.1. Grundqualität: Alltags-Kompass
Wenn Menschen über Erwartungen an bzw. Erfahrungen mit dem Jakobsweg berichten, kommen sie über kurz oder lang auf ihr Leben zu sprechen. Viele erleben ihre Lebensumstände als wenig kongruent, scheinen Grundsätzliches aus dem Blick verloren zu haben. Im Chaos einer ungefügten Lebenswelt entsteht das Verlangen »wegzulaufen«, sich der Konfrontation der ungeklärten Verhältnisse zu entziehen. Gegenüber blinder Flucht er- schließt sich mit dem Jakobsweg eine Alternative: Statt wegzulaufen, lässt sich hier ein »Weg laufen«, der positiven Sinn generiert. Der Lauf ist zentriert auf einen Anfang, eine Strecke, ein Ende, verschiedene, mehr oder weniger ausdehnbare Etappen, eine konstante Himmelsrichtung (am Ende meistens die sprichwörtliche Kompassrichtung Nord-Nord-West). Santiago ist mehr als ein geografischer (oder spiritueller) Ort am Ende des Weges, symbolisch zeigt es an, dass dem Loslaufen ein Ziel entgegenkommt.
Wie ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch die Tiefeninterviews, der Jakobsweg habe etwas vom Lebensweg. Ein Pilger beschreibt es so: »Der Camino ist wie das Leben. Wie ein Lebensbild. Wenn der Jakobsweg eine Person wäre, wäre sie herausfordernd, nimmt einen an die Hand und macht es einem aber auch nicht leicht« (IB7)*. Wiederkehrende Analogien zum »Lebensweg« zeigen, dass die Ausrichtung über das Geschehen vor Ort hinaus Orientierung und Halt verspricht, die im Alltag verloren gegangen scheinen. Wie eine Person begleitet der Jakobsweg mit Anspruch, Zuspruch, Trost, gibt einem immer wieder »Hinweise«, »fordert« einen zur Leistung heraus. Weit über die Richtung des Weges erweist sich das Wandern auf dem Jakobsweg als Alltags-Kompass, der langfristige Orientierung und Halt verspricht.
4.2. Wirkungsraum: Psychologische Grundlagen des Umgangs mit dem Jakobsweg

Abbildung 2: Spezifische Tendenzen der Wirkungseinheit "Jakobsweg"
4.2.1 Auf den Weg bringen
Wenn man sich auf den Weg begibt, geht es zunächst um die Frage, was dafür mitzunehmen ist. Quantität und Qualität des Mitgebrachten fallen je nach Belieben ganz unterschiedlich aus. Was bei manchen Pilgern eine langwierige Vorbereitung voraussetzt, fällt bei manch anderem eher spontan aus, es wird mitgenommen, auf was nicht verzichtet werden kann. Man packt seinen Rucksack mit all seinen sieben Sachen, die einem helfen sollen, die Reise ins Ungewisse möglichst reibungslos (wenn auch nur auf den ersten Blick) zu meistern. Mitgetragen werden aber auch Gedanken, Wünsche und auch Sorgen, die ebenfalls Platz im Rucksack finden.
Ein Wunsch macht sich breit, etwas auf dem Weg auszutragen. Das wandert sprichwörtlich in den Rucksack, man hat es dabei, es geht den Weg mit, drückt schwer oder wird allmählich abgeschüttelt. Während man die Landschaft um sich herum anschaut, wird auch die Seelenlandschaft durchwandert, wird betrachtet, was an Gedanken, Wünschen, Sorgen mitgenommen wird. In den Interviews zeigte sich, dass ausnahmslos jeder Proband und Pilger etwas ganz Eigenes mit auf den Weg nahm um es zu durchleben: »Die Angst vor Hunden steht für mich symbolhaft für die Angst vor dem Unvorhersehbaren im Alltag« (IB1). Die Angst vor dem Unvorhersehbaren wird hier sprichwörtlich auf den Weg gebracht. Mit ihr soll etwas passieren. Sie soll mit mir auf dem Weg ein Schicksal erleiden, erträglich werden, anders angeschaut werden können. Ist beim einen die Angst vor dem Ungewissen, Unvorhersehbaren im Gepäck, so meldet sich bei anderen die Furcht vor der bevorstehenden Selbstständigkeit oder die Trauer um den verstorbenen Sohn. Alle Pilger beschäftigt ein Thema, gelegentlich auch nur die Frage, was verarbeitet oder bearbeitet werden möchte.
4.2.2 Entgegen kommen lassen
Die Wanderer beschäftigt aber nicht nur das Mitgebrachte, sondern auch, was ihnen auf dem Weg entgegen kommt. Aktiv gehen die Pilger auf Orte, Dinge, Menschen zu und lassen sich zugleich vom Zufall des Entgegenkommenden überraschen. Sie lassen etwas auf sich zukommen, was sie auf der anderen Seite aber auch erwarten und anstreben. Sie möchten Neues entdecken und gleichzeitig möchten sie von Neuem entdeckt werden: »Das Laufen, die Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen, dem Gegenwind, die Vielfältigkeit auf dem Camino und im Fokus die Heilung« (IB5).
Die Naturschönheit ist ein wichtiger Aspekt des Entgegenkommenden. Diese zeigt sich in unberührten Tälern, ehrfürchtigen Berglandschaften, einer Vielzahl an prachtvollen Blumenwiesen und dem (Mit- oder Entgegen-) Strömen von klaren Bächen. Ebenfalls kommt dem Pilger das festgelegte Ziel, wenn auch nur etappenweise, stetig näher. Das Entgegenkommende können aber genauso Begegnungen mit Menschen sein oder sogar mit sich selbst. Der Pilger möchte auch sich selbst ein Stück weit entgegen kommen und es sich zugleich nicht nehmen lassen, alles von ganz allein auf sich zukommen zu lassen. In der Begegnung mit sich selbst können Zukunftspläne manifestiert und Anregungen der Veränderung für den Alltag herauskristallisieret werden. So entdeckte eine Probandin beispielsweise auf dem Weg eine fürsorgliche »Stimme in sich selbst«, die in einem liebevollen Ton zu ihr sprach und sie ermahnte, wenn sie zu viel von ihrem Körper verlangte und sie auch lobte, wenn sie einen schwierigen Anstieg gemeistert hatte. Diese Stimme, so beschreibt die Probandin, hat ihr »einen intensiveren Kontakt mit sich selbst ermöglicht« und zeigte ihr neue Seiten an sich, die sie immer schon gerne gesehen hätte (IB2).
4.2.3. Aufbrechen
Der Aufbruch steht nicht einfach nur für das Loslaufen von einem Ort zum anderen. Nach Kafka beteutet er immer schon ein »Weg-von-hier« (Kafka, 2012, 72), ein Aufmachen, Aktivieren im Hinblick des Weg-von bzw. Hin-zu. Die Entschiedenheit, die im Alltag oft fehlt, wird mit dem Auf- bruch spürbar und konkret. Der Aufbruch ist aber auch ein Aufbrechen und Aufspalten des Alltages und der selbst auferlegten Konventionen, die ihn begleiten. Im Aufbruch werden Grenzen neu definiert, es wird entschieden, was zu tun ist, und es wird gehandelt: »Ich möchte nicht in den Zwang kommen mich nach jemandem richten zu müssen, was das Tempo angeht. Ungebunden, selbstbestimmt, keine Kompromisse eingehen müssen und nicht mit anderen planen müssen« (IB7).
Aufbruch verkörpert Stellungnahme und das »Sich Trauen« (IB2) auch Wagnisse einzugehen. Ein Wagnis bedeutet aber auch Verantwortung für die eigene Entscheidung zu übernehmen und sich durchzusetzen, wenn es gefragt ist. Wo sonst ein höflicher Auftritt angemessen ist, wird auf dem Jakobsweg eine Klärung der eigenen Position sichtbar. »Ich bin hier um es zu Ende zu bringen« (IB2) und »Ich bin stolz darauf, den Mann stehen gelassen zu haben« (IB1).
Wandern »eine Blase ausgebreitet« (Salber, 1991, 72), die schwere Gedanken sprichwörtlich nach oben ausweitet. Das kann bei manch einem Pilger die Suche oder die Intensivierung der Verbindung zu Gott sein. Bei anderen weitet sich der Dialog mit sich selbst: »Unter dem Begriff Selbsterfahrung verstehe ich mehr von mir zu sehen oder gezeigt zu bekommen und meine körperlichen Grenzen zu sehen« (IB1). Eine Pilgerin beschreibt die Tatsache, dass sich in ihrem Kopf zwei Parteien gebildet haben, die während des Laufens in Kontakt geraten: »So bin ich mit mir selbst im Dialog. Das Gespräch mit mir ordnet meine Dialoge ein Stück weit und liefert mir auch nachhaltig Stoff zum Nachdenken« (IB2). Es werden Fragen wie »Wer bin ich? Wo ist mein verstorbener Sohn, Colja jetzt? Ist das Bestimmung? Gibt es Gott überhaupt?« (IB5).
Der Raum, der geschaffen ist, bietet den Pilgern auf dem Weg Sicherheit, Verbundenheit mit sich selbst und einen Kontext, in dem man in einen intensiven Austausch gerät, ob nun mit der eigenen Person, mit einer höheren Macht oder mit seinen Problemen.
4.2.6. Durchwandern
Die körperlichen Anstrengungen des Laufens, die zurückgelegte Strecke und die Last der Ausrüstung lassen die Pilger sehr deutlich ihren Körper spüren. »Es ist ein ständiges Kämpfen und Leiden müssen, denn wenn alles gut wäre, dann würden wir nicht über das Leben nachdenken« (IB7). Es fließt der Schweiß, es schmerzt an allen Stellen des Körpers, die Last wird bei jedem Meter schwerer und deutlich spürbarer: »Auf dem Jakobsweg ist die Anstrengung immer präsent« (IB7). Der Wanderer knickt um, bekommt Druckstellen, Blasen und andere Blessuren. »Das Zusammenspiel der Ausrüstung und der Last des Körpers sind für mich eine Art, mich zu erden und bodenständig zu bleiben“ (IB2), aber es kommt auch vor, dass die Last zu schwer wird und sich Angst breit macht, die Kraft könnte nicht reichen: »Ich stolperte heftig, sodass ich mein Knie aufschlug. Es war schon später Nachmittag und meine Kraft war ebenfalls ausgeschöpft. Ich hatte Angst, dass ich alleine im Wald übernachten muss. In dieser Situation war Angst meine größte Motivation« (IB7).
Der Aspekt des Durchwanderns greift eine dem »Raum Schaffen« entgegen gesetzte Tendenz auf, die Salber darin verortet, es sei nötig »die Blase vom Kopf in die Füße zu bekommen« (vgl. Salber, 1991, 72). Die Öffnung der Gedanken, Gefühle, Ängste »im Kopf« ist offenbar nur möglich, wenn die Probleme unter Schmerzen durchwandert werden. Die Blasen werden zu schmerzhaften Begleitern, die Probleme erlebbar machen. Sie schmerzen, sie drücken, sie werden in einer Intensität durchlitten, wie es mit den Problemen im Alltagskontext nie möglich (oder gewünscht) wäre.
Indem sich der Pilger den Schmerzen stellt, werden die Leiden aber auch bezwungen. Mit jedem Schritt werden sie ein Stück weiter überwunden. Der Interviewpartner mit der Angst vor Hunden drückt es so aus: »Es gibt mir ein gutes Gefühl jedes Mal wieder an den Hunden vorbeizugehen, auch wenn sie mir jedes Mal wieder Angst machen« (IB1).
5. Zusammenfassung:
Was ist angesichts der gegenläufigen Wirkungszüge nun aber das Ganzmachende und Heilende am Jakobsweg? Im Überblick über die geführten Interviews stellte sich heraus, dass sich die Wandernden auf dem Jakobsweg wenn auch auf unterschiedliche Art allesamt neu ausrichten und die alltäglichen Gegebenheiten, die aus dem Takt geraten sind, zusammenbringen wollen, damit es sich im Alltag wieder rund anfühlt. Dabei werden die Komfortzonen des bequemen Lebens bewusst verlassen, um über Anstrengungen und Stolpersteine in eine selbst bestimmte Gesamtordnung (Harmonie) zurückzufinden. Das Leben kann/soll wie ein Orchester zusammenklingen. Das Orchester des Alltags, mit seiner Vielzahl an Instrumenten und Einflüssen, wird auf dem Jakobsweg gleichsam neu gestimmt und lässt eine (bestenfalls) harmonische Melodie erklingen.
Den Misstönen und Disharmonien des Alltages setzt der Kompass des Jakobsweges eine klare Melodie entgegen. Sie soll im Kreuz und Quer des modernen Lebens einen erkennbaren Auftakt geben, ihn nachhaltig prägen. In ihr soll die Vielfalt der persönlichen Motive durch ein Leitmotiv zusammengehalten werden, das Start und Ziel, Aufbruch und Ankommen, Strapazen und Erholung zusammenbringt. »Ich möchte nicht in den Zwang kommen, mich nach jemanden richten zu müssen, was das Tempo angeht. Ungebunden, selbstbestimmend, keine Kompromisse eingehen müssen und nicht mit anderen planen müssen.« (IB7).
Diese Entschiedenheit wird in der zerfahrenen Gegenwartskultur wie eine Verheißung wahrgenommen, denn das »Aufbrechen« und »Ankommen« scheint im modernen Lebensalltag aus dem Takt gekommen zu sein. Das ständige »Ein- und Auskuppeln« in verschiedenen Lebensentwürfen und die Herausforderung, jederzeit alles sein zu können und leisten zu müssen, werden im Jakobsweg kontrastiert durch die Chance, dem inflationären Bildangebot zu entkommen und sich auf ein einzelnes konzentrieren zu können. Es wird ein symbolischen Raum geschaffen, der den (All-) Tag mit einem einheitlichen Setting versorgt, mit wirklichen Anfängen und wirklichen Enden. Was alltäglich aus der Reihe tanzt, kann auf dem Jakobsweg in »Einklang« gebracht werden. Viele unterschiedliche Komponenten leisten dafür einen polyphonen Beitrag: »Dieser Fokus, den ich auf dem Jakobsweg besonders wahrnehme, entgleitet mir oft in meinem Alltag. Nachdem ich zurück zu Hause war, habe ich versucht den Fokus noch länger anhalten zu lassen, aber er rückt immer mehr in den Hintergrund, wenn der Alltag einen wieder einholt – ein Anlass, einen neuen Anlauf zu nehmen.« (IB7)
*IB: Interview Beschreibung


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